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Abitur & Corona – Warum halten wir an diesen Prüfungen fest?

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Abitur 2020 - Ja oder Nein?

Kaum etwas wird in den letzten Wochen so kontrovers diskutiert wie die Frage:

Sollten die schriftlichen Abiturprüfungen 2020 „regulär“ geschrieben werden oder nicht?

Mit diesem Beitrag möchte ich meine ganz persönliche Meinung dazu darstellen. 

Ich finde: Die verpflichtenden (schriftlichen) Abiturprüfungen sollten nicht stattfinden! Sie sind nicht notwendig – sie gefährden Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und bedeuten für alle Beteiligten hohe Belastungen!
Die verpflichtenden Prüfungen könnten stattdessen durch vollkommen freiwillige Prüfungen ersetzt werden. Dadurch könnten Sie den Interessen aller Beteiligten gerecht werden.

Selbstverständlich versuche ich meine Schülerinnen und Schüler gerade so gut ich kann auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Ich würde mir für meine SchülerInnen aber wünschen, dass sie diese Prüfungen gar nicht erst schreiben müssten! Warum, möchte ich hier gerne darlegen.

Andere Abschlussprüfungen

Ich beziehe mich in diesem Blogeintrag weitgehend auf die Abiturprüfungen. Vieles, was ich hier darlege, lässt sich aber in großen Teilen auch auf andere Abschlussprüfungen (Haupt- und Realschulabschlussprüfungen und Prüfungen an Berufsschulen) übertragen.

Update (24.04.2020): Ich wurde darauf hingewiesen, dass die Abschlussprüfungen an Berufsschulen hier einen Sonderfall darstellen. Denn mit einem Abschluss der Berufsausbildung erhält man, anders als bei Abiturprüfungen und Haupt- und Realschulabschlussprüfungen, die Bescheinigung, den entsprechenden Beruf ausüben zu können (und zu dürfen). Obgleich auch hier auf die Lage durch die Corona-Pandemie geachtet werden sollte, ist das bloße „Ausfallen“ der Prüfungen hier weniger eine Option als bei Abiturprüfungen, Haupt- und Realschulabschlussprüfungen. Hier wäre es wichtig andere Lösungen zu finden, die alle Beteiligten nicht gefährden! Die entsprechenden Stellen im Blogeintrag habe ich daher abgeändert! Danke für den Hinweis!

Die Bundesländer

Bildung ist Ländersache, entsprechend unterscheiden sich die Abiturtermine und die etwaigen Verschiebungen teils massiv.

Zwei Länder haben die schriftlichen Abiturprüfungen bereits schreiben lassen:
Rheinland Pfalz und Hessen
Alle anderen Bundesländer starten innerhalb der nächsten Zeit mit den Prüfungen – einige starten bereits diese Woche, andere erst Ende Mai!

Ein fehlender Abschluss

Die konkrete Situation in den meisten Bundesländern war die, dass die SchülerInnen ganz plötzlich aus ihrem Unterrichtsalltag herausgerissen wurden:

  • Verhältnismäßig spontan wurde beschlossen, dass Schulen geschlossen werden, und die SchülerInnen ab dem darauffolgenden Schultag nicht mehr in die Schulen kommen dürfen
  • Mottowochen der Abiturienten fanden demnach häufig nicht statt
  • „Abigags“ fielen an vielen Schulen aus

Das klingt zunächst nach nicht so viel – aber ich denke, was den Schülern damit bereits vorab genommen wurde, ist in meinen Augen enorm wichtig:

Der Abschied von Schülerinnen und Schülern, der Abschied von Lehrerinnen und Lehrern, der Spaß einer Mottowoche und eines Abigags mit dem damit einhergehenden Gemeinschaftsgefühl.
Und damit: Ein großer Teil des Abschieds von einem wichtigen Lebensabschnitt!

Und dieser fehlende Abschluss wird voraussichtlich auch kaum nachgeholt werden können. Ob Abibälle und Zeugnisverleihungen stattfinden können ist zumindest zum derzeitigen Zeitpunkt fragwürdig.

Dieser fehlende Abschluss wirft die Abiturienten in eine äußerst ungewöhnliche Lage und diese Lage bedeutet für die Abiturienten besonders eins: Stress!

Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen: Abitur findet statt

Dennoch: Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen: In allen Bundesländern sollen die schriftlichen Abiturprüfungen stattfinden. Diese Entscheidung wurde von vielen Stellen begründet.

Dabei ist der grundsätzliche Gedanke hinter der Entscheidung, die Prüfungen stattfinden zu lassen, für mich absolut nachvollziehbar: Den SchülerInnen, die in diesem Jahr ihre Abschlussprüfungen schreiben, soll kein Nachteil entstehen, ihr Abitur soll genauso viel Wert sein, wie das aus anderen Jahren. Das ist auch in meinen Augen natürlich wichtig und richtig!

Die Gründe für die Prüfungen​

Von den Befürwortern der (verpflichtenden) Abiturprüfungen 2020 werden besonders folgende Gründe genannt:

  • Das Abitur soll in ganz Deutschland vergleichbar sein. Würden einzelne Bundesländer keine Abiturprüfungen schreiben, könnte das Abitur in diesen Ländern als „minderwertig“ angesehen werden, Universitäten könnten dieses Abitur unter Umständen nicht anerkennen.
  • Das Abitur soll in ganz Deutschland fair sein. Alle, die ihr Abitur erwerben, sollen die gleichen Leistungen erbringen – und dazu gehört eben auch eine Abiturprüfung.
  • Die Abiturnoten sollen aussagekräftig sein. Ohne schriftlichen Abiturprüfungen wäre dies nicht gegeben.
  • Die SchülerInnen sollen, nachdem sie sich auf ihre Prüfungen vorbereitet haben, die Möglichkeit haben, ihre erworbenen Fähigkeiten anzuwenden und damit ihre Abiturnoten verbessern können. 

Die Gründe gegen die Prüfungen

Auf der anderen Seite stehen eine ganze Reihe von Gründen, die gegen die Durchführung der verpflichtenden schriftlichen Prüfungen angeführt werden:

  • Die Sorge, dass das Abitur in einigen Bundesländern nicht vergleichbar wäre und somit z.B. von Universitäten nicht anerkannt werden könnte, ließe sich lösen! Die Kultusministerkonferenz könnte beschließen, dass das Abitur überall anerkannt wird. Ähnliches wird beispielsweise bei Haupt- und Realschulabschlüssen gemacht. Hier werden in einigen Bundesländern Prüfungen geschrieben, in anderen nicht. Dennoch werden diese Abschlüsse in jedem Bundesland anerkannt.
  • Das Argument der Fairness lässt sich nur schwer anwenden. Ohnehin ist das Abitur in den verschiedenen Bundesländern schon ohne eine Corona-Krise sehr unterschiedlich in Art und Umfang der Prüfungen. Durch die Verschiebungen der Prüfungen haben nun Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedlich lange Zeit, um sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Einige haben die Prüfungen im regulären Zeitfenster bereits geschrieben, andere haben Wochen und Monate mehr Zeit für ihre Vorbereitung.
    Auf der anderen Seite schreiben einige SchülerInnen nun ihre schriftlichen Arbeiten mit nur sehr geringem oder überhaupt keinem Abstand zwischen den Prüfungen.
    Die Voraussetzungen für die Zeit des digitalen Lernens zuhause sind zudem äußerst unterschiedlich. Einige haben eine gute technische Ausstattung, einen eigenen Arbeitsplatz und ein Zimmer für sich. Sie können gut lernen. Andere haben kein Internet zuhause, nur ein Smartphone oder müssen sich ihren Schreibtisch mit Geschwistern teilen.
    Die technische Ausstattung, die Fähigkeiten und der Wille der jeweiligen Lehrkräfte spielt ebenfalls eine enorme Rolle.
  • Die Aussagekraft der Abiturnote wird meiner Meinung nach ebenfalls nicht von den schriftlichen Prüfungen bestimmt. Zum einen zählen die schriftlichen Prüfungen ohnehin nur 1/3 der Endnote. Zum anderen spielt bei diesen Prüfungen die Tagesform eine enorme Rolle. Unter den derzeitigen psychischen Belastungen, unter denen viele der SchülerInnen leiden, ist fraglich, inwieweit sie bei diesen Prüfungen ihre realen Leistungen abrufen können. Viele Schüler haben Angst krank zu werden oder angehörige anzustecken. Manche Eltern haben wirtschaftliche Probleme durch die Corona-Krise. Einige werden Familienangehörige haben, die schwer erkrankt sind oder sogar gestorben sind. Unter diesen Voraussetzungen bezweifle ich die Aussagekraft dieser Prüfungen die ohnehin nur 1/3 der Endnote beeinflussen.
  • Die Möglichkeit, die Abiturnote zu verbessern wird in fast jeder Petition und in jedem „offenen Brief“ berücksichtig. Ein Modell ist, dass SchülerInnen freiwillig die Prüfungen antreten könnten, wenn sie die Prüfung benötigen, um beispielsweise einen bestimmten Schnitt zu erreichen. Auch freiwillige mündliche Prüfungen wären denkbar. Verbessern könnten sich Schüler also auf eigenen Wunsch auch ohne verpflichtende Prüfungen.
  • Hinzu kommt, dass die Hygiene-Ausstattung vieler Schulen nicht ausreichen, um die erforderlichen Maßnahmen durchsetzen zu können. Viele SchulleiterInnen schlagen Alarm und melden, dass sie die geforderten Pläne nicht oder nur unzureichend durchsetzen können. Vielen Schulen fehlt es schon an Waschbecken und Seife.
  • Daraus resultiert noch ein ganz handfestes Argument. Das ganz direkte Risiko sich anzustecken und damit sich selbst oder Familienangehörige zu gefährden. Die SchülerInnen müssen entscheiden, ob Sie zu einer Prüfung antreten wollen, bei der sie sich selbst anstecken könnten und potenziell sehr krank werden könnten. Damit einher geht die Möglichkeit, dass sie ihre Familienangehörigen anstecken könnten. Diese Verantwortung jungen Menschen in dieser Lebenssituation zu überlassen erscheint mir unangemessen.

Viele sind gegen die Prüfungen!

Dabei sind es nicht nur die SchülerInnen, die gegen die Entscheidung der Kultusministerkonferenz Sturm laufen:

Zahlreiche Petitionen gegen das geplante Abitur haben schon viele Zehntausend Unterschriften.
Z.B. https://www.change.org/p/peter-tschentscher-abi-2020-umdenken hat (Stand heute) bereits mehr als 149.000 Unterschriften gesammelt.

Die GEW fordert ebenfalls, auf die Abiturprüfungen 2020 zu verzichten:

Grund für den Verzicht auf Prüfungen sei, dass viele Schülerinnen und Schüler sich während der Kontaktbeschränkungen nicht gut auf die Prüfungen vorbereiten könnten, erklärte DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann. „Die Corona-Krise erschwert vielen Schülerinnen und Schüler das Lernen. Nicht alle können während der Schulschließung digitale Lernmöglichkeiten nutzen, in vielen Haushalten gibt es nicht genügend PCs, Laptops oder Tablets. Oft sind die Wohnbedingungen auf Grund der sozialen Situation der Eltern zu schlecht, um ein lernfreundliches Klima zu ermöglichen. Manche leben zu beengt oder in psychisch belastenden Situationen.“ Das verschärfe die Ungerechtigkeit, der in der Schule hätte entgegengewirkt werden können.

https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/verzichtet-auf-pruefungen/

Auch der Philologenverband hält ein Abitur ohne Abiturprüfung für möglich:

Die Vorsitzende des Philologenverbandes hat wegen der möglichen Folgen der Corona-Krise ein Abitur ohne Abschlussprüfungen nicht ausgeschlossen. Grundsätzlich sehe sie das Abitur nicht in Gefahr[…].

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/philologenverband-abitur-ohne-abschlusspruefungen-moeglich-16693886.html

Trotzdem: Die verpflichtenden Prüfungen sollen stattfinden

Die Bildungsminister bleiben allerdings bei ihrer Einschätzung. Auf die GEW und auf die Vielzahl von offenen Briefen wird nicht gehört.Und das wohl wichtigste: Auf die Schülerinnen und Schüler, die das betrifft, die in wenigen Tagen (oder schon heute) in dieser Ausnahmesituation so entscheidende Prüfungen ablegen sollen, wird nicht gehört. 

Natürlich: Es gibt auch eine ganze Reihe von SchülerInnen, die die Abiturprüfungen schreiben möchten, die  also zeigen wollen, was sie in ihrer Vorbereitung gelernt haben. Auch diesen Schülern könnte man mit einer Absage der verpflichtenden Prüfungen und stattdessen mit freiwilligen Prüfungen gerecht werden!

Ein Wunsch...

Warum sollen die verpflichtenden Prüfungen trotzdem stattfinden? Ich zumindest habe keine gute Antwort darauf. Ich versuche meine Schülerinnen und Schüler trotz der widrigen Umstände bestmöglich auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Eigentlich wünsche ich mir ganz persönlich aber, dass sie diese Prüfungen nicht schreiben müssten, sich nicht diesen Ängsten und Unsicherheiten aussetzen müssten und viel wichtiger:

Ich wünsche mir für meine SchülerInnen, dass sie irgendwann den würdigen Abschluss für ihre Schulzeit erhalten, den sie verdienen. Noch habe ich die Hoffnung nicht (ganz) aufgegeben.

Jonas

Gymnasiallehrer an einer IGS, Interesse an digitaler Unterrichtsentwicklung & Mathematikdidaktik. Vater und Hobby-Läufer